Die Philosophie der Spätantike wird oft aus der Perspektive des Christentums betrachtet: Philosophen wie Augustinus, Boethius oder Pseudo-Dionysius Areopagita stehen an der Schwelle von Heidentum und Christentum und bereiten in einflussreichen Schriften den Siegeszug der christlichen Religion vor. Dabei weist die spätantike Philosophie durchaus einen ganz eigenen Charakter auf, der vor allem durch den Versuch geprägt ist, noch einmal, ein letztes Mal die großen Philosophen der Antike – vor allem Platon und Aristoteles – mit dem zeitgenössischen Stand der Diskussion zusammenzuführen.
Nachdem zum Ende des 1. Jahrhunderts vor Christus, in der Zeit von Cicero und Caesar also, die athenischen Schulen nach der Schließung der athenischen Akademie sich zu neuen Synthesen zusammenfanden, formierte sich auch der Platonismus neu. Er bildete einen losen Schulzusammenhang aus, den wir heute ‚Mittelplatonismus‘ nennen. In ihm wurden viele spekulative Fragen der Älteren Akademie und der platonischen Theologie konserviert. Nicht in Athen, sondern in Alexandria bildete sich auf der Basis dieser Tradition in der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. eine neue Schule aus: der Neuplatonismus. Seine wichtigsten Vertreter: Plotin und dessen Schüler Porphyrios. Sie begründeten gemeinsam eine der wichtigsten und einflussreichsten Formen des platonischen Denkens in der Geschichte der Philosophie.
Im Seminar werden wir uns mit den Fragestellungen auseinandersetzen, mit denen Plotin sich der klassischen griechischen Philosophie nähert: Wie lassen sich Platon und Aristoteles zusammendenken? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen verschiedenen Figuren des ‚Prinzips‘ in Aristoteles‘ Metaphysik und Platons Dialog Parmenides? Wie müsste eine Lehre beschaffen sein, die den Schüler Stufe für Stufe in die höchsten philosophischen Einsichten einführt?
Um den Neuplatonismus auch als Schule zu verstehen, werden wir zudem Texte von Plotins Schüler Porphyrios und des späten Neuplatonikers Proklos heranziehen. Aus einem Kommentar zu Porphyrios, den Boethius im 6. Jahrhundert abfasst, ergibt sich die grundsätzliche Matrix dessen, was als ‚Universalienstreit‘ bezeichnet wird. Und die platonische Theologie von Proklos wird nicht nur für das christliche, sondern auch für das muslimische frühe und hohe Mittelalter zu einem der wichtigsten Texte. Proklos‘ Philosophie weist zudem über das Mittelalter hinaus – zusammen mit Platons Timaios gehört er zu den Autoren, die insbesondere von den Naturphilosophen und Astronomen der Neuzeit gelesen werden.
Wir werden im Seminar historischen Überblick und Arbeit am konkreten Text abwechseln. Dabei liegt der Fokus vor allem darauf, die philosophische Epoche zwischen Antike und Mittelalter näher kennenzulernen und die Rezeptionszusammenhänge besser einschätzen zu können. Aufgrund seines Überblickcharakters ist das Seminar für B.A.-Studierende gut geeignet. Da wir aber auch in die konkreten Texte einsteigen und zentrale Denkfiguren der platonischen Tradition besprechen werden, können auch M.A.-Studierende vom Seminar profitieren. Die zu lesenden Texte werden in einem Seminarreader zur Verfügung gestellt.
Zur vorbereitenden Lektüre empfohlen:
Beierwaltes, Werner: Denken des Einen. Studien zu einer neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985
Beierwaltes, Werner: Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren, Frankfurt a. M. 2007
Halfwassen, Jens: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004
Dieses Seminar kann sehr gut mit dem Seminar von Peter Trawny zu Pseudo-Dionysius Areopagita kombiniert werden!
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