Kommentar |
Kants Anthropologie
Die Frage Was ist der Mensch? ist Grundanliegen der Anthropologie. Kant zufolge ist sie sogar zentral für das Fragen der Philosophie im Ganzen. Und in der Tat kann die gesamte kopernikanische Wende – mit der Kant nicht nur seiner eigenen Philosophie zu einer methodischen Neuausrichtung verhilft, sondern gar eine neue Weise des Philosophierens begründet – als der Versuch einer Antwort auf die Grundfrage der Anthropologie gedeutet werden.
Die 1798 erschienene Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Kants bündelt in der Frage nach dem Menschen die verschiedenen erkenntnistheoretischen, moralischen und ästhetischen Probleme der drei vorangehenden Kritiken. Doch sie verknüpft diese verschiedenen philosophischen Anliegen nicht abstrakt und der Ebene des reinen Apriori, sondern stellt sie vielmehr in den Spannungsbereich der Kultur, der Gebräuche, der bürgerlich-gesellschaftlichen Umgangsformen, der Geschlechterdifferenz, der Erziehung, ja gar der Krankheit, des Todes, der Falschheit und des Scheins. Die Anthropologie Kants ist daher insofern „pragmatisch”, als sie die zuvor begründeten theoretischen Einsichten und Erkenntnisse in das allgemeine Apriori des menschlichen Geistes auf konkrete gesellschaftlich-politische Spannungsverhältnisse anzuwenden sucht. Hierdurch erwachsen Handlungsanweisungen, die dem Menschen zur Realisierung des „Weltbürgers” dienlich sein sollen.
In unserem Seminar werden wir nicht nur kritisch auf das Ideal des aufgeklärten Weltbürgers einzugehen haben. Auch werden wir auf die Weisen Acht geben, in der das kantische Apriori (einer wahrhaftigen Erkenntnis, der moralischen Bestimmung etc.) in die konkreten und empirischen Bedingungen der Kultur und der Gemeinschaft eingebunden ist. Dabei werden wir beobachten, wie dieses Apriori immer wieder durch die faktischen Existenzbedingungen des Menschen abgelenkt, verunreinigt und daher zwangsläufig auf eine Realität hin ausgerichtet wird, die zur Bestimmung seiner ursprünglichen Reinheit, wenn nicht in Widerspruch, so doch zumindest in einer gewissen Spannung steht.
|