Die Literatur des 19. Jahrhunderts stand noch deutlich im Zeichen der europäischen Aufklärung und der philosophischen Idee von der ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ (Immanuel Kant). Dieses Postulat beförderte die Freiheit und Selbstbestimmung vor allem bildungsnaher Schichten, verhinderte aber zugleich die Teilhabe Andersdenkender oder Andersseiender an gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Der Ausschluss begründete sich aus der vorherrschenden Moral, welche die sogenannten ‚Wahnsinnigen‘ als willensschwach, lasterhaft oder als Produkt falscher Erziehung kennzeichnete.
Im Seminar untersuchen wir literarische Texte, in denen Darstellungen des Normwidrigen das fiktionale Geschehen motivieren und auch Werke, die dem sogenannten ‚Wahnsinnigen‘ eine Stimme, einen Standpunkt verleihen. Literarisierungen des (vermeintlichen) Wahnsinns können als Kritik an einem zu eng gefassten Rationalitätsbegriff oder als Versuch einer Begriffserweiterung um paralogische Äußerungen oder Textstrukturen gelesen werden.
Voraussetzung zur Teilnahme am Seminar: Gründliche Lektüre und Lust zur Auseinandersetzung mit grenzüberschreitenden Diskursen.
Primärliteratur: Heinrich von Kleists Penthesilia (1808), E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816)und Das Fräulein Scuderi (1818), Georg Büchners Lenz (1839), Adalbert Stifters Waldsteg (1844), Wilhelm Raabes Im Siegeskranze (1866), Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1888).
Forschungsliteratur (Auswahl): Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte (2005), Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1973/2013), Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie (1995), Horst S. Daemmrich/Ingrid G. Daemmrich: Wahnsinn. In: Dies.: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch (1995), S. 333-336.
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